Jahreszeit der Krähen

Es ist endlich die Jahreszeit der Krähen geworden, ein Stück Weg nach der Mühle singen sie ihr Winterlied in die kahlen Äste der Bäume hinein, auf das es keinen Morgen mehr gibt. Sie erwarten die langen Nächte, um das Gefieder wieder dunkler werden zu lassen, das vom schnöden Sommer schon grau geworden war, wie ein Lumpen ausgewaschener Stoff, und auch die kleinen Vogelherzen, die so schnell schlagen müssen, in ihrer schwarzen Freude.

Auf dem Marktplatz

Auf dem Marktplatz, da bei dem Kiosk- und Toilettenhäuschen, sitzt einer, vom Nieselregen geschützt, und spielt Gitarre. Hallelujah — kein Weihnachtslied. Alle stehen beim Fischstand an. Später in die Nordstadt, auf dem Fahrrad. Vorbei an einer der letzten Fabriken in der Innenstadt, weißer Dampf steigt über einem der Gebäude auf, wie eine improvisierte Wolke, es riecht nach Gummi. Die Straße weiter, um die Ecke, all die Dönerläden, der schöne Niesel, weiterhin.

Wintersonne

Für die Insel hatte der Wetterdienst in den letzten Jahren immer 16:21 als die Zeit des Sonnenuntergangs angegeben, so die Erinnerung. In Richtung Weststrand laufen, um die Sonne dann über der Nordsee untergehen zu sehen.

Der gedruckte Kalender hingegen gibt für dieses Jahr Sonnenauf- und -untergang mit diesen Daten an:

4.12.: 8:09 / 16:15
5.12.: 8:10 / 16:15
6.12.: 8:11 / 16:15
7.12.: 8:13 / 16:14
8.12.: 8:14 / 16:14
9.12.: 8:15 / 16:14
10.12.: 8:16 / 16:14
11.12.: 8:17 / 16:14
12.12.: 8:18 / 16:14
13.12.: 8:19 / 16:15
14.12.: 8:20 / 16:14
15.12.: 8:20 / 16:14
16.12.: 8:21 / 16:14
17.12.: 8:22 / 16:14
18.12.: 8:23 / 16:15
19.12.: 8:23 / 16:15
20.12.: 8:24 / 16:16
21.12.: 8:24 / 16:16
22.12.: 8:25 / 16:17
23.12.: 8:25 / 16:17
24.12.: 8:26 / 16:18
 

Merkwürdig die Daten für den 12.-14.12., (16:14/16:15/16:14), da ist wohl eine Delle in der Zeit.

Die Sonne geht — mehr oder weniger — zur selben Zeit unter, aber jeweils etwas später auf. Bis zum 21.12. Für welchen Ort aber gelten diese Angaben? Der Wetterdienst gibt für heute diese Daten für die Insel an: 8:46 / 16:12 und für Hannover 8:29 / 16:09 — (Böen 46 km/h / 37 km/h). In der Küche lief zum Frühstück niederländisches Radio.

Sturm

Der stürmische Morgen jagt die Regenböen das du meinst nach nassem Hund zu riechen in der Kapuzenjacke.

Vollgesogen wie ein Schwamm hat sich die Luft mit Regen
und der Gesang leerer Bierflaschen vom Balkon im Erdgeschoss kommt noch dazu.

Wolken ziehen auch wie im Zeitraffer vorbei. Weil Sturm und Abholtag in der Gegend zusammen kamen, liegt überall nasser Müll auf den Gehwegen. Am Morgen, an der Kreuzung, fahren Autos über auf der Straße verstreute, leere Weichspülerflaschen.

Sonst war nicht viel. Nur die Venus, am Abend, im nachtblauen Himmel, sie scheint so hell.

Donnerstag gratis

Ich bin noch nicht angekommen im neuen Jahr, die Zahl, wenn ich sie aufschreibe, fühlt sich noch fremd und abstrakt an, als wäre es noch nicht wirklich so. Die Neun schreibe ich nicht besonders gut, wenn ich sie handschriftlich notiere, etwa auf dem Freigabeformular einer Korrekturfahne. Es ist ein allerschönster Regen hier seit Jahresbeginn, der tatsächlich bereits in der Silvesternacht begann und sich seitdem, mit größeren oder kleineren Unterbrechungen, fortsetzt. Die Himmel tragen ein grau und die Wolken beginnen bisweilen direkt über dem Erdboden, sodass man gewissermaßen durch den feinen Niesel der Regenwolke selber läuft, etwa auf dem Weg zu einer Bushaltestelle. Das alles wird noch wahrer werden.

Ambitionierte Projekte liegen vor mir in diesem Jahr. Die kaputte Glühbirne im Flur austauschen. Das Bügeleisen immer ausmachen. Weniger Wut.

 
Immer wieder Regen, auch am gestrigen Sonntag, der fast durchgehend, auch heute wieder, dann weht der Wind über die Brache gegenüber von meinem Büro draußen in der Einflugschneise. In der Mittagspause zwei größere Wasservögel in der Luft.

In der Nacht geträumt, dass zwei meiner Gedichte auf der Gedichteseite der Fernsehzeitung veröffentlicht werden sollen, die den Tageszeitungen am Donnerstag gratis beiliegt. Ich halte ein gedrucktes Exemplar in der Hand, das erste Gedicht kenne ich nicht, dann merke ich erst, es ist garnicht von mir. Meine beiden Werke stehen zweispaltig nebeneinander, das eine ist streng rechteckig gesetzt und enthält, daran zumindest erinner ich mich, eine Zeile unverständlicher Zeichen, etwa so:

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auch das zweite Gedicht ist besonders, vor den Buchstaben ragt ein kleiner metallener Käfig aus der Seite heraus, ungefähr 1½ cm erheben sich die feinen Stäbe vor der Seite. Leider kann ich mich nicht an den Inhalt erinnern.

In einem Supermarkt liegen dann neben der Eingangstür mehrere Exemplare der letzten Ausgabe. Ich wusste bis dahin nicht, dass diese Fernsehzeitschrift eine Gedichteseite hat und nehme eine Zeitschrift. Jemand hat hier ein Gedicht veröffentlicht, welches auch mit einer winzigen Skulptur einhergeht, die auf erstaunliche Weise in den zugeklappten Zeitschriften verschwindet — ein an einen an der Wand anzubringenden Kleiderhaken erinnernder Stab aus Metall, der am oberen Ende eine Auskerbung hat, an welche der Kleiderbügel gehängt werden könnte, der allerdings in diesem Fall nur wenige cm, vielleicht 5, breit sein dürfte. Dahinter verbirgt sich ein Scharnier, denn das obere Ende lässt sich hochklappen und sodann ertönt ein Geräusch wie von einem elektrischen Türöffner in einem Mietshaus [aufgew.].

Im fahlen Licht später Morgen

Die Tage der diesjährigen Winterreise grau alle Samt. Bis dorthin gegangen, wo alle Grenzen durchlässig werden, die zwischen Land und Meer unterscheiden, die zwischen Himmel und Erde unterscheiden. In den Zügen sitzend, sehen wir das graugrüne Winterland vorbeiziehen vor den Fenstern

In einer nördlichen Stadt der Versuch, mit der Sofortbildkamera Fotos anzufertigen in diesen dunklen Tagen.

Am Ende des alten und vor Beginn des neuen Jahres also auch der Grenze der Zeit angenähert; Alle halben Stunden vergesse ich jetzt den Wochentag. Alles ist im Traum eingesponnen, alles ist in der Zwischenzeit. Kurze Tage, die ohne Geschäft und Verbindlichkeit dahingehen und nächtlich bunte Träume, von denen nur eine Ahnung bleibt, nach dem Erwachen im fahlen Licht später Morgen.

Tungsten Pentachloride

Die Kälte macht mit mir, dass ich mich gerade sehr lebendig fühle, auch wenn sie mich anstrengt. Ich bewundere die Vögel, diese kleinen Wesen, wie sie es schaffen nicht zu erfrieren. Am einem Morgen, bevor es kalt wurde, hörte ich die Amsel zum ersten mal singen. Momentan hört man aber nichts davon, welchem Vogel jetzt der Baum, der Busch, der Giebel und die Antenne auf dem Dachfirst gehört. Das fängt dann wieder an. Am Abend noch einen kurzen Weg mit dem Fahrrad gefahren, um Wein und Bier und Milch und Butter zu kaufen. Zwei Meisen flatterten durch die Birkenzweige, als ich das Rad an der Laterne vor dem Haus anschloss, als wenn nichts wäre, ungewöhnlich leise war ihr Zwitschern jedoch. Via Mail wird mir Tungsten Pentachloride angeboten.

Gestern oder heute sagte ich zu den beiden Kollegen, dass dieser plötzliche Winter für mich ein wenig eine Normalität wieder herstellt. Dabei das latente Wissen, das es sich gewissermaßen um eine Simulation handelt und dass das Eis am Nordpol trotzdem weiter schmilzt. Jeden ersten Augenblick der dunkle Abgrund der Dystopie, der seinen gierigen Schlund unter den Füßen aufsperrt, jeden zweiten Augenblick die glitzernde Welt der Science-Fiction, in der die Maschinen endlich unsere Arbeit machen.